In deutschen Städten sieht die Mehrheitsgesellschaft ihrem Ende entgegen | NZZ (2024)

In deutschen Städten sieht die Mehrheitsgesellschaft ihrem Ende entgegen | NZZ (1)

Frankfurt am Main, Offenbach, Heilbronn, Sindelfingen – in diesen und anderen Städten sind Deutsche ohne Migrationshintergrund nur noch die grösste Gruppe, stellen aber keine absolute Mehrheit mehr dar. Das betrifft Westdeutschland stärker als den Osten und eher Städte als das Land.

Michael Rasch, Frankfurt

Bereits in den 1980er Jahren propagierten die Grünen «Multikulti», also eine multikulturelle Gesellschaft. Damals standen vielen bürgerlichen Wählern bei dem Gedanken die Haare zu Berge, obwohl Multikulti längst begonnen hatte. Diese Realität hat sich in den vergangenen Jahrzehnten akzentuiert. Der Begriff ist allerdings aus der Mode gekommen. Heutzutage spricht man von Vielfalt und bunter Gesellschaft. In deutschen Grossstädten geht inzwischen die Mehrheitsgesellschaft ihrem Ende entgegen – das bedeutet, dass Deutsche ohne Migrationshintergrund (nach Definition des Statistischen Bundesamts) nicht mehr die absolute Mehrheit (>50%) sind, sondern neben Deutschen mit Migrationshintergrund und Ausländern lediglich noch die grösste Gruppe darstellen.

Frankfurt ist Vorreiter

In Frankfurt am Main gibt es die Mehrheitsgesellschaft bereits nicht mehr. Dasselbe gelte für kleinere Städte wie Offenbach (nur noch 37% Deutsche ohne Migrationshintergrund), Heilbronn, Sindelfingen und Pforzheim, erklärt der Migrationsexperte Jens Schneider, der an der Universität Osnabrück forscht. In zahlreichen anderen deutschen Städten werde bald das Gleiche passieren. Anfang 2018 lebten in Frankfurt laut dem statistischen Jahrbuch der Stadt 46,9% Deutsche ohne Migrationshintergrund. Deutsche mit Migrationshintergrund kamen auf 23,6% und Ausländer auf 29,5%, zusammen also 53,1%. Der Anteil der Deutschen ohne Migrationshintergrund ist in den letzten Jahren kontinuierlich gesunken. Die Schwelle von 50% wurde erstmals im Jahr 2015 mit 48,8% unterschritten. Schneider wehrt sich allerdings dagegen, Deutsche mit Migrationshintergrund und Ausländer quasi in einen Topf zu werfen, und plädiert wie viele seiner Kollegen dafür, die Kategorien zu überarbeiten. Der Begriff Mehrheitsgesellschaft transportiere ein falsches Bild, schliesslich seien rund zwei Drittel aller Kinder von Deutschen mit Migrationshintergrund (inklusive Kindern von Ausländern) in Deutschland geboren. Sie seien damit Deutsche und hätten oft eine berufliche Karriere vor sich, die sehr viel besser sei als etwa diejenige ihrer Eltern.

Nach der bisherigen Kategorisierung ist Frankfurt am Main bis jetzt wohl die einzige Grossstadt, in der sich mit 53,1% Deutschen mit Migrationshintergrund und Ausländern die Mehrheitsgesellschaft umgekehrt hat. Laut dem «Interkulturellen Integrationsbericht 2017» der Stadt München weisen beispielsweise Nürnberg (44,6%), Stuttgart (44,1%), München (43,2%) und Düsseldorf (40,2%) ebenfalls hohe Anteile von Deutschen mit Migrationshintergrund und Ausländern auf.

Wirtschaftskraft zieht Migranten an

In Stuttgart beträgt der derzeitige Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund und von Ausländern 46%. Laut der Pressestelle der baden-württembergischen Landeshauptstadt haben allerdings bereits fast 60% der unter 18-jährigen Stuttgarter einen Migrationshintergrund (inklusive Ausländern). Daher werde sich auch das gesamte Verhältnis in den kommenden Jahren ändern, so dass es keine ethnisch definierte Mehrheit mehr geben werde, wie dies in anderen Kommunen bereits heute der Fall sei.

Betroffen vom Ende der Mehrheitsgesellschaft sind fast ausschliesslich westdeutsche Städte sowie oftmals Städte im süddeutschen Raum, was an der Wirtschaftskraft des Südens und am damit verbundenen Bedarf an Arbeitskräften liegt. Allerdings gibt es auch zahlreiche Städte, in denen der Anteil der genannten Einwohnergruppen deutlich geringer ist, sie liegen tendenziell im Osten und im Norden Deutschlands. So beträgt der Anteil beispielsweise in Hannover und Berlin nur rund 30%, in Kiel 24%, in Potsdam 12% und in Dresden 11% (Zahlen von Ende 2016). Die ostdeutschen Bundesländer hatten vor der Wiedervereinigung eine sehr viel geringere Zuwanderung als die westdeutschen Länder, was sich bis heute in den Zahlen spiegelt.

Definition Migrationshintergrund

Eine Person hat laut dem Statistischem Bundesamt dann einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren ist. Die Definition umfasst im Einzelnen folgende Personen: Erstens zugewanderte und nicht zugewanderte Ausländer, zweitens zugewanderte und nicht zugewanderte Eingebürgerte, drittens (Spät-)Aussiedler und viertens mit deutscher Staatsangehörigkeit geborene Nachkommen der drei zuvor genannten Gruppen. In einzelnen Bundesländern gibt es allerdings leicht abweichende Definitionen.

Betrachtet man das gesamte Bundesgebiet, hatte Deutschland im Jahr 2017 laut Statistischem Bundesamt 81,7 Mio. Einwohner, unter ihnen 62,5 Mio. Deutsche ohne Migrationshintergrund (76,5%). Auf Bundesebene bleiben Deutsche ohne Migrationshintergrund somit auf absehbare Zeit in der absoluten Mehrheit. Deutsche mit Migrationshintergrund kommen derzeit auf einen Anteil von 12,5% (9,8 Mio.) an der Gesamtbevölkerung und Ausländer auf einen von 11,9% (9,4 Mio.). Doch auch hier dürfte der sinkende Trend beim Anteil von Deutschen ohne Migrationshintergrund kontinuierlich anhalten. Bei Kindern zwischen 0 und 10 Jahren beträgt der Anteil der Deutschen ohne Migrationshintergrund noch gut 60%, bei den 10- bis 15-Jährigen liegt er bei 64%.

Die beiden Gruppen Deutsche mit Migrationshintergrund und Ausländer sind sehr heterogen. Zuerst kamen nach dem Zweiten Weltkrieg die Vertriebenen. Bereits 1955 schloss die Bundesrepublik das erste Anwerbeabkommen mit Italien und Ländern wie Spanien und Portugal, wie Schneider sagt. Zuwanderung sei ein ständiger Fluss. Den ersten europäischen Arbeitsmigranten folgten später vor allem Türken, aber auch Marokkaner und Südkoreaner, die ebenfalls als Arbeitskräfte ins Land geholt wurden. Danach kamen die Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion dazu, die in die Heimat ihrer Vorfahren zurückkehrten, sowie während des Balkankrieges Flüchtlinge aus dieser Region. Mit der Personenfreizügigkeit innerhalb der Europäischen Union zog Deutschland viele Menschen aus anderen Mitgliedstaaten an, nicht zuletzt aus Kroatien, Rumänien und Bulgarien. Die Flüchtlingswelle Mitte dieses Jahrzehnts sorgte schliesslich für einen weiteren Schub bei der Gruppe der Ausländer.

Ein Phänomen in ganz Europa

Städte wie Frankfurt am Main, in denen es mehrheitlich Minderheiten gibt, sind alles andere als ein deutsches Phänomen. In amerikanischen Grossstädten kennt man dies schon seit vielen Jahren. Auch in Europa gibt es in Städten wie Amsterdam, Brüssel oder London keine Mehrheit der «Ureinwohner» mehr. In Amsterdam sind die Niederländer ohne Migrationshintergrund bereits seit dem Jahr 2011 in der Minderheit. Marokkaner bilden dort mit 9% die grösste Ausländergruppe. Bei Kindern unter 15 Jahren ist sogar nur noch eines von drei Kindern rein niederländischer Herkunft. Integration finde in manchen dieser Städte nicht mehr statt, sondern man organisiere im Prinzip schlichtweg das Zusammenleben, sagte der niederländische Integrationsforscher Maurice Crul im Jahr 2018 in einem Interview mit der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». Diversität sei die neue Norm, was allerdings zu kultureller Verunsicherung in der Mehrheitsgesellschaft führen könne.

Anm. d. Red.: Der Text wurde zunächst versehentlich in unredigierter Fassung publiziert. Wir bitten dies zu entschuldigen.

Wie Dänemark, ein Land mit hohem Lebensstandard und gut ausgebauten Sozialleistungen, daran arbeitet, die Bedingungen für Zuwanderer strenger zu gestalten Wie attraktiv kann ein Land für ausländische Fachkräfte sein, wenn es Immigranten generell fernhalten will? Das ist eine Frage, mit der sich die dänische Politik auseinandersetzen muss. Nach Jahren der Straffung der Einwanderungspolitik wächst in Wirtschaftskreisen die Angst vor einem Fachkräftemangel.

Rudolf Hermann, Kopenhagen

Ostdeutsche CDU-Politiker wollen ihre Partei aus einer Zwickmühle befreien Zwei Vizefraktionsvorsitzende der CDU in Sachsen-Anhalt halten Koalitionen mit der AfD nicht für ausgeschlossen, doch die Parteiführung wiegelt ab. Für die Blockadehaltung gibt es gute Gründe, der Preis dafür könnte aber hoch sein.

Jonas Hermann, Berlin

In deutschen Städten sieht die Mehrheitsgesellschaft ihrem Ende entgegen | NZZ (2024)

FAQs

In welcher Stadt in Deutschland leben die meisten Ausländer? ›

Den höchsten Wert unter allen Landkreisen und kreisfreien Städten wies mit 39 Prozent die hessische Stadt Offenbach am Main aus, gefolgt von der Nachbarstadt Frankfurt am Main mit 31 Prozent.

Wie viele ethnische Deutsche gibt es noch in Deutschland? ›

Pressemitteilung Nr. 158 vom 20. April 2023
MigrationsstatusAnteil an der Gesamt- bevölkerung
Anzahl in 1 000in %
ohne Migrationshintergrund59 27871,3
mit Migrationshintergrund23 82528,7
Deutsche12 19114,7
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Apr 20, 2023

Wie viele Deutsche ohne Migrationshintergrund gibt es in Deutschland? ›

Bevölkerung mit Migrationshintergrund
in Tsd.in Prozent
Gesamtbevölkerung83.875100,0
davon:
ohne Migrationshintergrund58.96870,3
mit Migrationshintergrund124.90729,7
5 more rows
Apr 24, 2024

Wo ist der niedrigste Ausländeranteil in Deutschland? ›

Am niedrigsten ist der Anteil der Ausländer an der Gesamtbevölkerung in den ostdeutschen Bundesländern. Die Werte lagen im Jahr 2020 zwischen 4,8 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern und 5,4 Prozent in Thüringen.

In welcher Stadt in Deutschland leben die meisten Türken? ›

Türken, also Türkeistämmige in Deutschland, stellen in Berlin sowohl die größte ethnische als auch die am zahlreichsten vertretene nicht-europäische Zuwanderergruppe dar. Insgesamt sind in Berlin rund 200.000 Personen mit Migrationshintergrund aus der Türkei (rund 6 % der Berliner Bevölkerung) auf Dauer wohnhaft.

Wie viele Deutsche leben in den USA? ›

Liste
RangLandAnzahl der Deutschen
2Vereinigte Staaten42.220.180–60.000.000
3Brasilien5.000.000–12.000.000
4Argentinienca. 3.500.000
5Kanada3.322.405
69 more rows

Wie viele Ausländer hat Deutschland 2024? ›

Die SGB-II-Hilfequote der ausländischen Staatsangehörigen lag im März 2024 bei den Männern bei 18,8 Prozent und ist gegenüber dem Vorjahresmonat um 0,3 Prozentpunkte gestiegen. Unter den Frauen ist die SGB-II-Hilfequote um 0,6 Prozentpunkte auf 23,9 Prozentpunkte gesunken.

Welche Nation ist in Deutschland am meisten vertreten? ›

Im Jahr 2021 lebten in Deutschland mehr als 22 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. Etwa die Hälfte hat die deutsche Staatsangehörigkeit. Wichtigste Herkunftsländer sind die Türkei, Polen, Russland und Kasachstan.

Wie viele Ausländer bekommen Sozialleistungen in Deutschland? ›

Rund 486 100 Personen in Deutschland haben am Jahresende 2022 Regelleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) bezogen. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt, stieg die Zahl der Leistungsbezieherinnen und -bezieher damit gegenüber dem Jahresende 2021 um 22 % oder rund 88 000 Personen.

Wie viel Prozent der Bürgergeld Empfänger haben keinen Deutschen Pass? ›

Von den knapp 5,5 Millionen Bürgergeld-Beziehern sind fast 2,9 Millionen deutsche Staatsbürger, umgerechnet also etwas mehr als die Hälfte, 52,7 Prozent. Die restlichen 47,3 Prozent sind keine deutschen Staatsbürger. Woher kommen diese Menschen zum Großteil?

Welche Nationalitäten beziehen Bürgergeld in Deutschland? ›

Fakt ist also: Während 5,3 Prozent der Deutschen Bürgergeld beziehen, sind es 65,6 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer, 55,1 Prozent der Syrerinnen und Syrer, 47,1 Prozent der Afghaninnen und Afghanen, 41,7 Prozent der Irakerinnen und Iraker und 16,2 Prozent der Türkinnen und Türken.

Wo leben die wenigsten Ausländer in Deutschland 2024? ›

Damit war Nordrhein-Westfalen das Bundesland mit den meisten Asylanträgen; am wenigsten waren es hingegen in Bremen mit circa 1.220. Insgesamt wurden in Deutschland 2024 bislang etwa 132.000 Asylanträge gestellt.

Wo leben die meisten Schwarzen in Deutschland? ›

Schwarze und Afrodeutsche in deutschen Städten

Im Jahr 2021 waren rund 450.000 Staatsbürger aus Subsahara-Afrikanischen Ländern im Ausländerzentralregister gemeldet. Die meisten in Berlin (23.840), gefolgt von Hamburg (20.875), München (16.470), Frankfurt am Main (11.075) und Bremen (10.235).

Wo gibt es die meisten Marokkaner in Deutschland? ›

Migration. In Deutschland leben etwa 140.000 Menschen marokkanischer Abstammung, die meisten davon in Großstädten wie Berlin, Düsseldorf oder Frankfurt am Main.

Welche Stadt in Bayern hat die meisten Ausländer? ›

Den höchsten Ausländeranteil verzeichnete die Landeshauptstadt München mit 22,9%. – Die Ausländer in Bayern kommen aus rund 200 Staaten, darunter mehr als ein Fünftel aus der Türkei. – Der Männeranteil in der ausländischen Bevölkerung ist höher als in der deutschen.

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